„Alles was uns an anderen missfällt, kann uns zu besserer Selbsterkenntnis führen“.
Nach meinem letzten Artikel hatte ich nicht lange überlegen müssen. Fast wie von selbst, kam in mir der Wunsch auf, über den Schatten zu schreiben. In meiner Nachbarschaft lebt eine Person, die nicht nur mich, sondern auch andere Nachbarn extrem triggert. Sein Verhalten löst bei mir Ärger und Unverständnis aus. Aber warum ist das so? Ich hatte gelesen, dass das mit meinen verdrängten Eigenschaften, den sogenannten Schatten zu tun haben könnte. Carl Gustav Jung hat das Konzept des Schattens entwickelt und sagt, dass alles Unbewusste projiziert wird. Was wir bei uns selbst nicht wahrnehmen können, fällt uns umso mehr bei anderen auf.
Ich wollte dem auf den Grund gehen und klären, ob ich tatsächlich Charakterzüge dieses Nachbarn in mir trage. Kann mir das sogar dabei helfen, mich besser zu erkennen?
In diesem Artikel möchte ich mich mehr von der psychologischen Seiten an das Thema „Schatten“ annähern. Wie ich in „warum schreibe ich einen Blog“ erwähnt habe, bin ich auch sehr an der Psyche des Menschen und dadurch an Psychologie interessiert
Woher kommt das Konzept des Schattens?
Der berühmte Schweizer Psychoanalytiker C.G. Jung hat das Konzept des Schattens aufgestellt. Dabei geht es um den unbewussten Teil im Menschen. Jene Eigenschaften, die wir gerne leben und zeigen nennt er Persona und die Bereiche, die wir vor anderen oder sogar vor uns selbst verbergen, bezeichnet er eben als Schatten.
„Schließlich ist ja nicht der Schatten das Wesentliche, sondern der Körper, der den Schatten erzeugt“.
Verena Kast schreibt in ihrem Buch „Der Schatten in uns“: Der Schatten ist inhaltlich nicht definiert. Alles, was wir nicht oder noch nicht akzeptieren können, kann zum Schatten werden… Deshalb haben wir die Neigung, Schattenaspekte auf andere Menschen zu projizieren, sie an anderen wahrzunehmen… Wir machen diese Menschen zu Sündenböcken, an ihnen ärgert uns, was mit unseren eigenen Schattenseiten zu tun hat oder zumindest damit zusammenhängt. Schattenaspekte, die wir uns ungern eingestehen, können wir besonders gut in anderen erkennen.
Sind alle menschliche Eigenschaften prinzipiell in uns angelegt und was würde das für jeden einzelnen bedeuten?
Als ich begonnen habe, mich mit dem Aspekt der verdrängten Eigenschaften zu beschäftigen, ist mir auch eingefallen, dass die Wissenschaft in der Genetik bereits auf dem Stand ist, dass Umwelteinflüsse die Art und Weise wie gewisse Gene wirken beeinflussen. Man nennt diesen Teil der Wissenschaft Epigentetik.[Wikipedia]
Vielleicht kann ebenfalls geschlussfolgert werden, dass es sich bei den Eigenschaften von Menschen ähnlich verhält. Wenn wir das auf die Charaktereigenschaften anwenden, könnte es doch sein, dass wir prinzipiell alle Chartereigenschaften in uns tragen und durch Erziehung und unser Umfeld gewisse Eigenschaften mehr und andere weniger, oder gar nicht, ausgeprägt werden.
Wir erkennen in unserem Umfeld, das z.B. egoistisches Verhalten nicht gut ankommt und verdrängen es daher. Nach einer gewissen Zeit haben wir Egoismus in den Schatten verdrängt.
Wer zugleich seinen Schatten und sein Licht wahrnimmt, sieht sich von zwei Seiten, und damit kommt er in die Mitte.
Das wiederum würde dazu führen, dass wenn einem das bewusst wird, einem die Mitmenschen immer ähnlicher werden (oder besser sind) und sie sich nur dadurch unterscheiden, dass sie durch ihre Sozialisation das Glück oder Pech gehabt haben, gewisse Eigenschaften auszuformen. Toleranz unseren Mitmenschen gegenüber bekommt dadurch eine neue Bedeutung.
Debbie Ford und Gabriele Kuby schreiben in ihrem Buch „Schattenarbeit„: Wir haben jeden Charakterzug und seinen Gegenpol in uns, jede menschliche Emotion und jeden Impuls. Wir müssen alles, was wir sind, aufdecken, es in Besitz nehmen und liebevoll annehmen, das Gute und das Schlechte, das Dunkle und das Lichte, das Starke und das Schwache, das Ehrliche und das Unehrliche.
Wenn ich diesen Gedanken ins Extreme führe, dann ist die Frage, ob jeder ein Mörder werden kann sehr provokativ. Aber kann jeder hundertprozentig ausschließen, nicht zum Mörder werden zu können? Ich vermute, wenn die Situation es verlangt und man bedroht wird, könnte es dazu kommen, und wenn es in Notwehr ist.
Ein Nachspüren, wie geht es mir mit dem Egoismus des Nachbarn?
Wenn ich nun den Egoismus und die Rücksichtslosigkeit des Nachbarn genauer betrachte und mich frage, habe ich ebenfalls diese Züge in mir, dann muss ich das (leider) mit Ja beantworten. Aus meiner Sicht ist der egoistische Anteil in mir notwendig, um meine Ziele zu erreichen. Egoismus kann daher auch mit positiven Energien verbunden werden. Attributen wie Entschlossenheit, Zielstrebigkeit oder Fokussiert sein. Debbie Ford führt in ihrem Buch aus, dass es wichtig ist, wenn man sich dem Schatten zuwendet, man nach positiven Aspekten zu suchen.
„Sobald ich die positive und negative Seite jedes Aspektes von mir sehen konnte, war ich in der Lage, meine Abwehr aufzugeben und diesen Teil frei existieren zu lassen. Es geht nicht darum, die Dinge auszumerzen, die wir an uns nicht mögen, sondern darum, die positiven Seiten dieser Aspekte zu finden und sie in unser Leben zu integrieren.“
Veränderung passiert über Gefühle und kann nicht ausschließlich nur über den Verstand erfolgen.
Ein wichtiger Punkt ist, dass Veränderung nicht alleine über den Verstand gelöst werden kann. Veränderung im eigenen Verhalten, aber auch in der Sichtweise, wie der Mitmenschen, der einem ärgert, gesehen wird. Es muss gefühlt werden. Wie fühlen sich meine eigenen egoistischen Züge an? Wie bin ich, wenn ich egoistisch bin? Wenn ich dem nachspüre, fühle ich die Fokussierung und Zielstrebigkeit. Das Verhalten des Nachbarn beginnt durch diese Sichtweise langsam anders zu wirken. Ich spüre noch immer Ärger, aber ich gehe davon aus, dass dieser Prozess nicht von einem Moment auf den andern wirkt. Sich Zeit nehmen dafür und mich selbst damit auseinandersetzen.
Der Schatten birgt einerseits verborgene Energien, die in den verdrängten Eigenschaften schlummern, aber auf der anderen Seite wenden wir auch viel Energie auf, um diese Schatten im verborgenen zu halten. Wenn diese Eigenschaften im positiven Sinn dann in die Persönlichkeit integriert werden können, profitieren wir daher doppelt.
Die aktuelle geopolitische Entwicklung und der Schatten.
Die aktuellen Entwicklungen auf der geopolitischen Ebene, haben dem Schatten wie ich ihn betrachten wollte, eine neue Dimension gegeben. Ist es wirklich so, dass wir alle zu diesen Taten fähig wären, wenn wir nur den gleichen Weg gegangen wären und dieselben Schuhe getragen hätten?
Und zu all den schlimmen Meldungen, hört man dann noch von Banden, die die Situation von Flüchtlingen ausnützen und sie verschleppen.
Was ist passiert, dass Menschen so vom dunkelsten aller dunklen Schatten beherrscht werden?
Ist die Ursache in der ungleichen Verteilung von allem zu sehen? In einem Bericht vom Weltjournal auf ORF, wo über Cyberkriminelle berichtet wurde, wurde angeführt, dass nur die kriminell werden, die aus armen Verhältnissen kommen. Ist das ein Spiegel, der der Gesellschaft vorgehalten wird, weil wir uns nicht um alle im gleichen Maße kümmern?
Ist es tatsächlich so, dass jeder von uns zu diesen Taten prinzipiell fähig wäre? Wenn ich dem Gedanken folge und ihn mit Ja beantworten würde, wird mir unwohl. Was führt bei einem Menschen dazu, dass er ohne Mitgefühl, Empathie, Moral Gewissen agiert?
Ich denke, dass in diesen extremen Beispielen auch noch andere Aspekte eine Rolle spielen. Einerseits sind es die eigenen Werte, die in einem verankert sind, die zu einem Unverständnis führen (was aber auch wieder mit der Sozialisation zusammenhängt). Andererseits, wie mir die Therapeutin zur Überlegung mitgegeben hat, ist, dass es immer auch Verhalten im Mitmenschen und Gegenüber geben kann, die mich irritieren und ich dieses nicht einordnen kann, weil ich das Verhalten eben nicht kenne.
Ist der Schatten immer negativ?
Als ich begonnen habe mich mit dem Schatten zu beschäftigen, bin ich immer von negativen Eigenschaften ausgegangen. In mir war das Bild des Schattens, der ja immer dunkel oder schwarz ist, aber auf jeden Fall ohne Licht ist. Dieses Bild habe ich automatisch mit negativem assoziiert. Dunkel ist negativ.
In einem Gespräch mit einer Therapeutin hat sie mir aber auch aufgezeigt, dass Schatten auch etwas Positives sein kann.
Selbsterkenntnis mit dem Enneagramm und andere Eigenschaftsanteile.
Ich habe mich im Zuge der „Schattenarbeit“ auch mit anderen Konzepten befasst und habe einen Test für das Enneagramm gemacht. Dabei habe ich die Bestätigung erhalten, dass der „Perfektionist“ bei mir starke ausgeprägt ist.
Darüber hinaus sind in einem Menschen auch andere Anteile oder Eigenschaftsmuster angelegt. Ich trage zum Beispiel auch Anteile des weiblichen (es geschehen lassen, akzeptieren) und kindlichen (verspielt, kreative) in mir. Diese beiden Eigenschaftsanteile sind bei bei mir aber nicht sehr präsent. Um ausgeglichen zu sein, sollte eine gute Balance zwischen dem männlichen (fokussiert sein, zielstrebig), dem weiblichen und dem kindlichen Anteil herrschen.
Die Therapeutin hat mir aufgezeigt, dass meine z.B. Kreativität (kindlicher Anteil) unterrepräsentiert ist und ich diesen Anteil (diese Eigenschaft) daher in meinen Schatten geschoben habe.
Der Schatten kann auch positiv sein.
Wenn ich die Eigenschaft der Kreativität alleine betrachte, ist das für mich auf jeden Fall eine positive Eigenschaft. Ich spüre schon länger, dass ich meine Kreativität mehr ausleben will. Eine Motivation für den Blog war auch, etwas kreativ zu erschaffen.
Das Gespräch mit der Therapeutin hat mir auch ganz klar aufgezeigt, dass ich einen Blogartikel immer erst veröffentlichen will, wenn er für mich abgeschlossen ist, also zumindest für mich zum aktuellen Zeitpunkt perfekt ist.
Ich werde ab jetzt versuchen das Schreiben auch mehr als kreativen Prozess zu sehen und Artikel früher zu veröffentlichen. Im Idealfall leben die Artikel vom Austausch mit den Lesern und der Artikel wird mit den Erfahrungen der Leser bereichert. – also schreibt mir – ich freue mich!
Toleranz und Mitgefühl auf dem Weg der Selbsterkenntnis.
In der Psychologie geht es um den Menschen und das ist ein sehr komplexer Kosmos. Ich denke, was auf jeden Fall stimmt, ist, dass wenn ich mich mit den Eigenschaften eines anderen Menschen gezielt und ehrlich auseinandersetze, ich auch viel über mich selbst lernen kann.
Erkannt habe ich, dass ich natürlich auch z.B. egoistische Züge in mir trage und das ich auch rücksichtslos sein kann, wenn die Situation es absolut erfordert.
Dadurch, dass ich mich intensive mit der Fragestellung beschäftigt habe, habe ich erkennen dürfen, dass ein schöner Aspekt darin liegt, wenn es ehrlich betrieben wird, dass mehr Verständnis für den anderen entwickelt werden kann. Dies führt dann zu mehr Toleranz, Mitgefühl und Verständnis für die Mitmenschen.
Referenzen
https://lautestille.de/deine-eigenen-schattenanteile-wahrnehmen-und-integrieren/
https://www.schattenarbeit.de/schattenarbeit.html
https://mymonk.de/schattenarbeit-interview-mit-andreas-gauger/
https:/instahelp.me/at/magazin/selbstwert/was-unsere-schattenseiten-ueber-uns-verraten/
https://enneagramm.eu/das-fremde-in-mir-schattenarbeit-mit-dem-enneagramm/
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